Interview mit Waltraud Gläser
Silicon Valley Europe: Frau Gläser, Sie sprechen von Unternehmen als lebendigen sozialen Systemen. Wie unterscheidet sich Ihre Herangehensweise von der klassischen Unternehmensberatung?
Waltraud Gläser:
Die Haltung, Unternehmen als lebendige, soziale Systeme zu sehen, geht auf den deutschen Soziologen Niklas Luhmann und seine Systemtheorie zurück, die er schon in den 1960er Jahren entwickelte. Demnach besteht das soziale System einer Organisation aus den Menschen und ihren Interaktionen, ihrer Kommunikation, ihrer Einstellung, ihren Werten und ihrer Identität u. a… Zudem gliedert es sich in Teilsysteme, sog. Organisationseinheiten. Hier beginnt schon die größte Unterscheidung hinsichtlich des Grundverständnisses zwischen Organisationsberatung und der klassischen Unternehmensberatung. Bei der klassischen Unternehmensberatung liegt der Fokus auf fachlicher Expertise, Zahlen, Strategien und Prozesse. Der Beratungsansatz ist oft linear und zielorientiert hinsichtlich Maßnahmenplänen und konkreten Umsetzungsvorschlägen, die zudem noch häufig nach dem „best practice“ Prinzip gemacht werden und daher nicht selten einem „one fits all“-Ansatz entsprechen. Ich schaue auf Unternehmen als komplexes, lebendiges System mit Wechselwirkungen. Ich beobachte und verstehe zunächst erstmal, „was ist los?“, bevor es um „“was ist zu tun?“ geht. Meine Rolle als Beraterin ist die einer Prozessbegleiterin, die zur Reflexion anregt und Veränderungsprozesse mit dem System gemeinsam gestaltet. Die Prinzipien sind dialogisch, ressourcen- und lösungsorientiert, sie entsprechen keinen „Patentrezepten“ und regen zum „best current thinking“ an, weil es nicht DIE eine Wahrheit gibt, sondern verschiedene Perspektiven, die es zu berücksichtigen gilt.
Silicon Valley Europe: Der „Tag der Orientierung“ ist ein spannendes Konzept. Was genau passiert an diesem Tag und welche Erkenntnisse gewinnen Unternehmen daraus?
Waltraud Gläser:
Ich habe dieses Workshop-Konzept genau aus dem oben beschriebenen Grund entwickelt. Wenn ich von einem Kunden beauftragt werde, höre ich ja zunächst von Dingen, die als problematisch und veränderungsbedürftig wahrgenommen werden. Es ist also häufig zunächst nur eine Perspektive, nämlich die der Geschäftsleitung, unter der das Auftragsklärungsgespräch stattfindet. Wo der Schuh wirklich drückt und was der Unterschied zwischen Symptomen und Ursachen ist, wird häufig zunächst nicht verstanden. Daher schlage ich den „Tag der Orientierung“ als interaktives Workshopformat zu Beginn einer Prozessbegleitung vor, um durch das Einbinden der vielfältigen Perspektiven der Menschen oder Organisationseinheiten im Unternehmen zunächst einmal besser zu verstehen, was die tatsächlichen Gründe für Handlungsbedarfe sind. Ich bin also eine Art Übersetzerin, die dem Unternehmen beim Verstehen der komplexen Situation behilflich ist. Dass den Mitarbeitenden die Einladung zur Beteiligung dabei ausgesprochen wird, entspricht zudem noch mindestens einem Prinzip für gelingendes Change Management. Nicht selten habe ich es erlebt, dass der moderierte Dialog, der während des Workshops entsteht, schon Teil der Lösung ist, und das Interesse am gemeinsamen Betrachten von schwierigen Situationen im Unternehmen als höchst wertschätzend empfunden wird.
Silicon Valley Europe: Führungskräfte stehen oft unter hohem Druck. Wie kann das Sparring mit Ihnen dazu beitragen, bessere Entscheidungen zu treffen?
Waltraud Gläser:
Wir leben in einer volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt, auch als VUCA Welt bezeichnet, in der „bessere“ Entscheidungen inzwischen fast schon der übernächste Schritt sind. Der erste beginnt nämlich zunächst einmal mit der Bereitschaft, eine Entscheidung zu treffen, die ggf. auch falsch sein könnte. Hier besteht oftmals schon eine Lücke. Aus Unsicherheit, in einem komplexen und nicht mehr linearen Kontext die nicht passende Entscheidung zu treffen, halten es viele Unternehmen mit einem „weiter so!“. Das ist fatal und sendet die falschen Botschaften in eine Organisation, die von ihren Führungskräften Handlungsbereitschaft und Entschlossenheit erwartet. Im Sparring beleuchten wir gemeinsam die Herausforderungen und Probleme und decken Handlungsbedarfe aus. Durch das bessere Verständnis von Notwendigkeiten lassen sich auch Muster und Glaubenssätze beleuchten, die bisher Grundlage für das unternehmerische Handeln waren und ggf. zu ersetzen und neu zu gestalten sind. Das Sparring ist auch eine Ermutigung, mal aus einer anderen Perspektive auf die Dinge zu schauen und etwas zu wagen. Ich nenne das gerne auch das Denken mit „no box“, anstelle von „out of the box“, wo ja die alte Box meistens noch erhalten bleiben soll.
Silicon Valley Europe: Die psychische Gefährdungsbeurteilung ist für Unternehmen verpflichtend. Welche Herausforderungen sehen Sie in der Umsetzung und wie kann sie nachhaltig gestaltet werden?
Waltraud Gläser:
Sie sprechen den § 5 Abs. 3 Nr. 6 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) an, aus dem folgt, dass alle Arbeitgebende, unabhängig von der Betriebsgröße, Arbeitsplätze auf potenzielle psychische Gefahren untersuchen müssen, und das bereits ab dem ersten Mitarbeitenden. Dabei geht es um die Verantwortung für deren Sicherheit und Wohlbefinden und mögliche Maßnahmen, die die Gefährdung konkret, effektiv und effizient abstellen. Der erste Schritt besteht im Ernstnehmen der ermittelten Ergebnisse. Hier beginnt allerdings schon häufig die erste Herausforderung. Wenn es bspw. um quantitative Überlastung geht, die sich nur durch die Besetzung von oftmals schon lange bestehenden Vakanzen abstellen ließe, verhindert der Arbeitskräftemangel mitunter das Schließen dieser Lücke. Allerdings wäre dann auch mit den Mitarbeitenden gemeinsam nach alternativen Lösungen zu schauen, bspw. indem man gemeinsam die Anforderung neu definiert. Handelt es sich hingegen um das Bedürfnis nach klarer und erlebbarer Führung, auf die übrigens mit einigen der klassischen Gefährdungen korrespondiert, wäre Abhilfe unmittelbar möglich, bspw. durch Reflexion des eignen Führungsverständnisses, durch sich Zeit nehmen für Leadership – was die Bereitschaft der Führungskräfte voraussetzt. Grundsätzlich empfehle ich die Bereitschaft zum Dialog zwischen Arbeitgebenden und Mitarbeitenden und die Möglichkeit der Beteiligung als Voraussetzungen für eine machbare und nachhaltige Umsetzung.
Silicon Valley Europe: VUCA ist für viele noch ein abstrakter Begriff. Können Sie ein Beispiel geben, wie Unternehmen dieses Konzept praktisch anwenden können?
Waltraud Gläser:
Der Begriff VUCA wurde in den 1980er Jahren von zwei Universitätsprofessoren in den USA kreiert, um Unternehmen darauf vorzubereiten, dass die Welt zunehmen durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) geprägt sein wird. Mehr VUCA, als wir es heute, 40 Jahre später, erleben, geht fast nicht. Daher bleibt es relevant, im ersten Schritt das eigene Geschäfts- und Organisationsmodell hinsichtlich der individuellen VUCA-Betroffenheit zu analysieren und Antwortfähigkeit zu entwickeln. Das sind bspw. die Auswirkungen von Digitalisierung und KI oder die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Generationen, was wiederum Einfluss auf die Organisationsstruktur und -kultur sowie das Führungsverständnis hat. In diesem Kontext geht es auch um die Frage nach den bisherigen und zukünftigen Kompetenzen, die das Unternehmen benötigt. Der zweite Schritt ist dann der Austausch der ursprünglichen Phänomene durch Vision, Umsicht, Klarheit und Anpassungsfähigkeit, dem sogenannten VUCA Positiv Prime. Diese positive Übersetzung enthält Ansätze und Lösungen, die das Unternehmen idealerweise zusammen mit den Mitarbeitenden entwickelt und ausprobiert. Der Umgang mit VUCA bedeutet zudem eine veränderte Denkweise. Neben der Erweiterung der eigenen Kontextkompetenz geht es um eine Sowohl-als-auch-Haltung ggü. einer „Entweder-oder-Betrachtung“. Neudeutsch wird das als Ambidextrie bezeichnet, also Beidhändigkeit. Unternehmen führen das fort, was Bestand haben wird und schaffen gleichzeitig die Voraussetzungen für Neues und steigern somit ihre VUCA Fitness.
Silicon Valley Europe: Welche ersten Schritte empfehlen Sie Unternehmen, die sich auf die VUCA-Welt vorbereiten wollen?
Waltraud Gläser:
Die meisten Unternehmen navigieren schon erfolgreich durch die VUCA-Welt, ohne sich dessen konkret bewusst zu sein. Allerdings garantiert der Erfolg der Vergangenheit nicht automatisch den der Zukunft. Daher ist es hilfreich zu verstehen, was bisherige Erfolgsfaktoren waren und ob sie es zukünftig auch noch bleiben werden. Grundsätzlich ist ein Mehr an systemischem Denken und Verstehen wichtig, gerade bei steigender Komplexität. Aufgrund der Dynamik in einer digitalisierten und zunehmend fragmentierten Welt reduziert sich die Vorhersehbarkeit und deswegen sollten klassische Forecast-Prozesse gegen Backcasting getauscht werden. Dieser Ansatz ermöglicht es, auf der Grundlage von Zukunftsszenarien „rückwärts“ zu denken und zu planen und somit frühzeitiger zu justieren, was übrigens auch Prinzipien agiler Arbeitsweise entspricht.
Silicon Valley Europe: Wie kann eine Unternehmenskultur geschaffen werden, die Veränderungen nicht nur zulässt, sondern aktiv fördert?
Waltraud Gläser:
Zunächst möchte ich den Begriff der Unternehmenskultur so definieren, dass es sich hier um das beobachtbare Verhalten der Menschen in einer Organisation handelt. Der bekannte Satz, dass nichts so stetig ist wie der Wandel, darf das Leitmotiv für Unternehmen sein. Gestalten des Wandels und der benötigten Anpassungen gehören damit in die DNA von zukunftsfähigen Organisationen. Das erfordert allerdings konstante und kohärente Kommunikation sowie ein Menschenbild, das davon ausgeht, dass Menschen sich nicht der Veränderung selbst verweigern, sondern der Absicht, sich verändern zu müssen, und, wie es häufig der Fall ist, das auch noch ungefragt und uninformiert. Hier ist es klug, die Prinzipien von gelingendem Change und Transformation Management zu kennen und zu praktizieren. Dazu zählt, die Mitarbeitenden einzuladen, die Veränderungsprozesse mitzugestalten und die dafür benötigte Verantwortung zu übernehmen, anstatt Veränderung von oben anzuordnen und darauf zu hoffen, dass es schon gut gehen wird. Weitere wichtige Aspekte sind Zutrauen und Vertrauen seitens der Führungskräfte und die Bereitschaft, immer wieder zu justieren, bspw. durch regelmäßiges Feedback und dem gemeinsamen Finden von passenderen Ansätzen, um den Herausforderungen und Problemen bestmöglich zu begegnen. In Summe brauchen Unternehmen eine Verantwortungskultur, die eine häufig anzutreffende „(nicht)Zuständigkeitskultur“ ablöst.
Silicon Valley Europe: Welche Fehler beobachten Sie häufig in Veränderungsprozessen, und wie können Unternehmen diese vermeiden?
Waltraud Gläser:
Ich beobachte, dass viel zu häufig viel zu spät reagiert wird. Der Engländer sagt, „no pain, no gain“ oder im Deutschen sagen wir, „der Mensch lernt aus Liebe oder Leid“. Zu oft ist Leid der Auslöser für das aktive Anpacken von notwendigen Veränderungen. Das sind Kosten, die sich ein Unternehmen leistet, die vermeidbar wären, wenn bspw. die Vorbereitung auf eine sich verändernde Unternehmenswelt als stetige Investition in Unternehmensentwicklung anerkannt würde. Dazu gehört, Trends zu kennen, vorausschauend Märkte und Entwicklungen zu beobachten, sich nicht zu lange auf bisherigen Erfolgen auszuruhen und, vor allem, statt der Selbstbeschäftigung, den Kunden in den Mittelpunkt für den Geschäftszweck zu rücken und vom Markt aus zu denken, welche Konsequenzen das für das Geschäftsmodell hat bzw. haben könnte. Ein Kernprinzip agiler Herangehensweisen ist genau das – es geht um das Einbeziehen des Kunden in die Geschäftsstrategie und um Zusammenarbeitsmodelle, die Collaboration und Co-Creation ermöglichen.
Silicon Valley Europe: Welche Rolle spielen Digitalisierung und neue Technologien in der Organisationsberatung und der Entwicklung resilienter Unternehmen?
Waltraud Gläser:
Digitalisierung und neue Technologien spielen eine zentrale Rolle. Sie verändern nicht nur die Arbeitsweise von Organisationen, sondern auch die Herangehensweise an strategische Unternehmensentwicklung. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein strategisches Mittel zur Stärkung von Resilienz, Agilität und Innovationsfähigkeit. Das vermittele ich meinen Kunden. Es geht um das Zusammenspiel zwischen Technologiekompetenz, Change-Fähigkeit und systemischem Denken. Beratung kann wunderbar als Enabler der digitalen Transformation agieren und durch eine zum Unternehmen passende Begleitung neben der Unterstützung beim Einsatz neuer Technologien auch bei Themen wie kulturellen Wandel, neue Führungsmodelle, Kompetenzaufbau (Digital Skills), Aufbau von Innovationsstrukturen und Einführung agiler Arbeitsweisen behilflich sein. Das wiederum stärkt die Widerstandkraft und Reaktions- und Antwortfähigkeit eines Unternehmens. An dieser Stelle ist übrigens zu erwähnen, dass es geförderte Programme gibt, wie das INQA-Coaching, für das ich als Beraterin akkreditiert bin. KMU bekommen eine Förderung von 80 Prozent bei einem Eigenanteil von 2.400 € für einen Prozess, der über 7 Monate geht und den Grundstein legen hilft für eine attraktive und resiliente Organisation.
Silicon Valley Europe: Was ist Ihre wichtigste Botschaft an Führungskräfte, die ihr Unternehmen zukunftsfähig machen möchten?
Waltraud Gläser:
Meine wichtigste Botschaft an Führungskräfte lautet: „Zukunftsfähigkeit entsteht an der Schnittstelle von Technologie, Kultur und Sinn.“
In einer Welt, die von Unsicherheit, Komplexität und digitalem Wandel geprägt ist, reicht es nicht mehr aus, nur auf Effizienz oder kurzfristiges Wachstum zu setzen. Führungskräfte müssen sich vielmehr auf drei zentrale Felder konzentrieren:
- Technologie gezielt nutzen – nicht blind digitalisieren
- Eine resiliente und lernende Kultur auf- und ausbauen
- Sinn und Orientierung geben